Holistic Health – Ganzheitliche Therapieentscheidungen dank innovativer „decision aids“
Mussten Sie in letzter Zeit eine medizinische Entscheidung treffen? Inwieweit hat Sie Ihr Arzt in die Überlegungen, welches Ihre beste Therapieoption ist, eingebunden? Waren Sie sich bewusst, nach welchen Kriterien Sie entscheiden, was zu tun ist?
In vielen Szenarien gibt es mehr als eine klinisch angemessene Interventionsstrategie. Bei einem Beinbruch ist meist klar, was zu tun ist. Aber wie sieht es nach einer Krebsoperation aus – sollte man medikamentös nachbehandeln oder lieber nur aktiv überwachen? Neben der rein „wissenschaftlichen“ Seite kommen schnell Fragen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität eines Patienten, die z. B. durch die Nebenwirkungen einer Therapie eingeschränkt wird, ins Spiel. Diese Lebensqualität ist kein rein medizinisches Phänomen, sie beinhaltet auch emotionale, soziale oder auch mentale Aspekte. So hat beispielsweise Haarausfall, der mit einer Chemotherapie einhergeht, kaum medizinische Implikationen – er kann jedoch das Selbstbewusstsein und die soziale Lebensqualität einer Person stark einschränken.
Die Medizin bewegt sich immer weiter weg von patriarchalischen Modellen, in denen ein „Halbgott in Weiss“ dem Patienten sagt, was medizinisch gesehen zu tun ist. Man weiss heute, dass ein geteilter Entscheidungsprozess (Fachbegriff SDM, „shared decision making“) zwischen Arzt und Patienten oder Angehörigen zu besseren Therapieergebnissen führen kann. Je mehr eine Entscheidung subjektive Abwägungen zwischen potenziellem Nutzen und Schaden erfordert, desto mehr muss die Perspektive der Patienten einfliessen. Die beste Therapieoption hängt dann von den Werten des Patienten in Bezug auf Nutzen, Schaden und wissenschaftliche Unsicherheiten jeder Option ab (J. Wennberg et al.).
Die meisten Ärzte wissen das. Einer gemeinsamen Entscheidungsfindung stehen jedoch Zeitdruck, die Betreuung durch mehrere Spezialisten, manchmal auch Voreingenommenheit aufseiten der Ärzte oder Unwissen und Zurückhaltung seitens der Patienten entgegen. Es gibt ferner Hinweise auf eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität der gemeinsamen Entscheidungsfindung aufgrund von Missverständnissen über das Wesen der gemeinsamen Entscheidungsfindung, die dafür erforderlichen Fähigkeiten, den Zeitaufwand und das Ausmass, inwieweit Patienten, Familien und Betreuer an der Entscheidungsfindung teilhaben wollen (Hoffmann TC et al. 2014).
Grundlegend problematisch ist, dass sich viele Betroffene selbst nicht bewusst sind, was ihnen in Bezug auf ihre Gesundheit am wichtigsten ist. Zudem sind sie in kritischen Situationen oft damit mental überfordert, über ihre Wertvorstellungen nachzudenken. Noch dazu, wenn es um Nutzen oder Risiken geht, die sich erst in der Zukunft manifestieren. Typischerweise ziehen wir in Stresssituationen Entscheidungsheuristiken heran (also Wissen, das wir aufgrund früherer Erfahrungen in unserem Gedächtnis gespeichert haben und „automatisiert“ abrufen können). Heuristiken sind sehr nützlich für Routine-Entscheidungen. Bei einer medizinischen Entscheidung, die lebenswichtig sein kann, laufen sie jedoch Gefahr, unvollständige Informationen überzubewerten, Informationslücken zu ignorieren oder Schlussfolgerungen aufgrund wahrgenommener anstatt realer Wahrscheinlichkeiten zu treffen. Oft bemerkt man dabei seine Fehlentscheidung nicht rechtzeitig. Die Folgen können neben Dissonanzen eine fehlende Therapietreue, ein Therapieabbruch oder gar eine Verminderung bis zum völligen Ausbleiben des Therapieerfolges sein.
Ein Lösungsansatz besteht im Training der Ärzteseite in Bezug auf ihre kommunikativen oder empathischen Fähigkeiten. Auf der Patientenseite versucht man, Entscheidungshilfen zu bieten, welche über Nutzen und Risiken einer Therapie aufklären. Sobald der Patient informiert ist, nimmt er in dem von ihm gewünschten Umfang an der Entscheidungsfindung teil. Innovative Lösungen der gemeinsamen Entscheidungsfindung nutzen verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und ein sogenanntes „Patienten- Profiling“, das bei den grundlegenden Gesundheitspräferenzen eines Patienten ansetzt, welche dann universell in Therapieentscheidungen einbezogen werden können. Der Patient lernt sich selbst besser kennen und wird befähigt, seine Präferenzen im Dialog mit den Ärzten zu äussern. Entscheidungen können schliesslich von einer intuitiven Ebene der Heuristiken im „System 1“ des Gehirns in das sogenannte „System 2“, welches stärker auf logisch durchdachten Schlussfolgerungen fusst, überführt werden. Wahrnehmungsverzerrungen lassen sich ausmerzen und Entscheidungen stärker an die wahren Präferenzen eines Patienten binden. Die Konfrontation mit Zukunftsszenarien hilft Patienten, sich die eigene Zukunft und die Auswirkungen verschiedener Therapieoptionen darauf besser vorstellen zu können.
Wichtig ist, dass in Bezug auf mögliche Therapien deren Risiken und Nutzen in einen alltäglichen Kontext gestellt und verständlich visualisiert werden (z. B. stellt sich heraus, dass absolute Häufigkeiten besser verständlich sind als relative Häufigkeiten, eine 10-Prozent-Sterblichkeitsrate wird anders wahrgenommen als eine 90-Prozent-Überlebenswahrscheinlichkeit). Die Gesundheits- und Rechenkompetenz der Patienten muss bei der Entwicklung unbedingt einbezogen werden (Bonner et al. 2021).
Die Anforderungen an eine gemeinsame Entscheidungsfindung im medizinischen Kontext entwickeln sich stetig weiter. Nicht zuletzt, da Interaktionen ausserhalb der traditionellen persönlichen Begegnung mit einem Arzt, Komorbiditäten, ethnische oder kulturelle Eigenheiten, länderspezifische Unterschiede sowie Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin vermehrt einbezogen werden müssen. Das Potenzial verschiedener Technologien in Verbindung mit verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen ist jedoch vielversprechend, um Entscheidungen zu fördern, hinter denen alle Beteiligten stehen.